Ideen für die Stadt der Zukunft.



07.04.2020

Zukunftsforscher und Architekt im Gespräch: Klaus Burmeister, Head of foresightlab, und Architekt Caspar Schmitz-Morkramer über den Umbruch im Handel. 

„Wir sind mit Highspeed im digitalen Zeitalter angekommen“, sagt Caspar Schmitz-Morkramer. Die Corona-Krise hat nicht allein das Online-Geschäft extrem beschleunigt, sie offenbart zugleich, wie schleppend sich der Handel auf die Digitalisierung vorbereitet hat. Die Umbrüche in den Innenstädten und die Stadt im Wandel untersuchte der Architekt mit seinem Büro caspar. schon vor der Pandemie mit der eigenen Studie retail in transition, die gerade erschien. Mit dem Zukunftsforscher Klaus Burmeister, Head of foresightlab, beleuchtete er zum Jahresbeginn Perspektiven und neue Ideen für Europas Innenstädte. Damals noch in Unkenntnis der bevorstehenden Krise, aber offenkundig wie gedacht für sie: Von der Zukunft des Handels, regionaler Ökonomie und Digitalisierung – im Interview mit den beiden Experten geht es um Bausteine für lebenswerte Städte und eine Chance des neuen Miteinanders.

Herr Schmitz-Morkramer, Sie beschäftigen sich als Architekt und Stadtplaner mit urbanen Entwicklungen – besonders mit den Umbrüchen unserer Innenstädte. Unter dem Titel „retail in transition“ haben Sie bürointern eine eigene Studie erstellt, die in Kürze publiziert wird. Was gab hierfür den konkreten Anlass?

Caspar Schmitz-Morkramer: Handelsimmobilien gehören fest zu unserem Arbeitsspektrum. Vor etwa zwei Jahren ist uns aufgefallen, dass unsere Entwurfsstudien, die wir unter anderem für Handelsprojekte auf der Schadowstraße, der Zeil, der Hohe Straße und der Schildergasse gemacht haben, ins Stocken geraten sind. Wir haben uns gefragt, was passiert da gerade mit dem Handel? Früher wurde noch mehr in Richtung Vertikalisierung des Handels gedacht, um mehrere Geschäfte unter ein Dach zu bekommen. Das hat sich komplett geändert, weil der Handel diese Flächen nicht mehr braucht. Die Chance liegt darin, verschiedenartige Nutzungen in die Häuser zu bekommen. In unserem aktuellen Projekt, den Sedelhöfen in Ulm, haben wir das praktiziert: Handel im Unter-, Erd- und ersten Obergeschoss, darüber Büro, Hotel und Wohnen – wir haben hier alle Nutzungen miteinander gemischt, das befruchtet sich gegenseitig. Auf keinen Fall wollten wir ein Einkaufszentrum bauen, sondern ein ganz normales Stück Stadt. Das ist zugleich eine Antwort darauf, was die Stadt heute an dieser Stelle braucht: etwas, das Stadt lebenswert macht!

Wie schaffen wir es, das Bild von der europäischen Stadt, mit ihrem Zentrum als übergreifendem Treffpunkt und öffentlichem Raum, weiterhin lebendig zu halten? Wer oder was sind die Treiber der heutigen Entwicklung, und was folgt daraus?

Caspar Schmitz-Morkramer: Die Digitalisierung ist der entscheidende Faktor, mit dem sich unsere Städte heute auseinandersetzen müssen. Früher standen in Bestlagen die Nachmieter Schlange. Vermieter konnten Spitzenpreise mühelos durchsetzen. Der Markt hat sich grundlegend gewandelt und schafft die Basis für ein Umdenken in den Innenstädten. Um einzukaufen, brauche ich nicht mehr unbedingt in die City zu fahren. Das kann ich inzwischen bequem online erledigen. Also sollte es mehr sein als ein Einkaufserlebnis, was mich künftig in die Innenstadt zieht. Dabei müssen wir uns heute noch mit den Monostrukturen beschäftigen, die uns der Städtebau nach dem Zweiten Weltkrieg überlassen hat. Köln bildet ein prominentes Beispiel für die Monotonie von Handelsimmobilien. Vor allem in der Hohe Straße stehen überall eingeschossige „Kisten“, maximal zwei- bis dreistöckige Häuser, bei denen die Obergeschosse leer stehen, weil sich eine Erschließung aufgrund der kleinen Grundrisse nicht lohnt. Unten schaffe ich Raum für den Handel, aber oben verödet die Stadt. Leben findet hier nur während der Ladenzeiten statt, ab 20.00 Uhr herrscht tote Hose. Die Herausforderung lautet: Wie funktioniert die City 24/7? 

Klaus Burmeister: Sie untersuchen mit Ihrem foresightlab die sozialen und ökonomischen Umbrüche der Städte. Hat das Modell der europäischen Innenstädte noch eine Zukunft – oder anders gefragt, brauchen wir unsere Innenstädte überhaupt noch?

Klaus Burmeister: Aus meiner Sicht geht es um die Neuerfindung von Urbanität. Historisch betrachtet ist Handel ja nichts weiter als Marktplatz. Markt zeichnet städtisches Leben, Stadtgesellschaft aus. Austausch, Handel, Kommunikation. Unsere heutige Zeit ist geprägt von disruptiven Veränderungen, von neuen technologischen Möglichkeiten, von neuen kommunikativen Fähigkeiten, von anderen Arbeitsformen, neuen Möglichkeiten des Einkaufens. Das stellt natürlich die Stadt, den Markt und den Handel vor neuartige Anforderungen. Aber ich würde gerne den Blick weiten. Es geht hier für mich nicht allein um den Handel, sondern um ganz fundamentale Dinge. Früher gab es einmal so etwas wie die „Kreuzberger Mischung“ – vorne Wohnen, hinten Arbeiten. Genau um diese Form urbaner Mischgebiete geht es! Wir müssen über die Lärmvorschriften, über die Baunutzungsverordnung hinausgehen und experimentell Innenstadt und Quartiere wieder zu lebendigen Austausch-Orten machen. Meine Grundthese lautet, dass seit dem 19. Jahrhundert im Handel keine grundlegenden Innovationen mehr stattgefunden haben. Le Bon Marché, das erste französische Kaufhaus Mitte des 19. Jahrhunderts, führte bereits Kolonialwaren aus aller Herren Länder, hatte ein Shop-in-Shop-System, baulich angegliedert war eine Manufaktur, in der parallel produziert wurde. Es gab soziale Fürsorge, Bildungsangebote, Sprachkurse für Mitarbeiter. Harrods hat zu Beginn des 20. Jahrhunderts bereits „same day delivery“ eingeführt, was 2013 von Amazon als Neuheit verkündet wurde. Wir brauchen heute innovative Handelsunternehmen, die auf die skizzierten gesellschaftlichen Entwicklungen konstruktiv und ideenreich eingehen. 

Hat sich das, was hier gefordert oder gewünscht wird, nicht längst in den unterschiedlichen Stadtteilen, den Veedeln, der Städte entwickelt – wo dezentral einkaufen, flanieren, sich treffen möglich ist, vielfältige Gastronomie, Bistros und Cafés zum Verweilen einladen. Wie sehen Sie in diesem Zusammenhang die Rolle der Innenstadt?

Caspar Schmitz-Morkramer: Wir brauchen beides – das Veedel und die City. Die Veedels-Entwicklung finde ich klasse. In den Stadtquartieren sind die Mieten deutlich niedriger als in der City – das wird auch so bleiben. Das schafft Raum für Experimente. Es ist bedauerlich, dass es die ganzen inhabergeführten Geschäfte aufgrund des Mietniveaus in den Citylagen nicht mehr gibt. Die großen Städte werden immer mehr zu Touristenmagneten, Tourismus ist für viele Städte längst ein zentraler Wirtschaftsfaktor. Dabei spielt die Verweildauer eine große Rolle, weshalb die Städte in ihre Aufenthaltsqualität investieren sollten: Handel, Gastronomie, Sport, Bildung, Theater, Museen – ein vielfältiger Mix des gesellschaftlichen Lebens ist für die Stadt entscheidend. Das Angebot macht den Unterschied und bestimmt die Attraktivität der Innenstadt.

Klaus Burmeister: Wenn wir uns das einmal global anschauen, ist Berlin als Metropole vergleichsweise noch billig. 

Caspar Schmitz-Morkramer: Noch!

Klaus Burmeister: Alle anderen Metropolen sind teuer – kaum mehr für normale Bewohner bezahlbar. Die sind in meinem Verständnis auch nicht mehr lebendig. Sie folgen dem Konzept der Global Cities, sie sind Knotenpunkte in finanziellen Transaktionsnetzwerken. Andere Städte werden mehr und mehr zu einer Art Disneyland, wo man Eintritt bezahlt – Florenz, Heidelberg, Venedig, auch Quartiere von Paris, London oder Barcelona. Der weltweite Massentourismus, aktuell forciert durch chinesische Touristen, wird viele Städte und Regionen noch einmal standardisieren. Weitere Veränderungen bewirken die plattformbasierten Unternehmen mit ihren digitalen Geschäftsmodellen, die alles das noch einmal verstärken, was wir hier an negativen Entwicklungen für die City genannt haben – nämlich, dass inhabergeführte Geschäfte aufgeben, Ketten übernehmen und damit Vielfalt eher verschwindet.

Caspar Schmitz-Morkramer: Das tolle Beispiel, wie sich die geschilderten Probleme lösen lassen, kann ich auch nicht aus dem Hut zaubern. Aber ich sehe, dass es eine ganze Reihe neuer, interessanter Konzepte gibt. In Rotterdam werden zum Beispiel auf Dächern Lebensmittel angebaut und professionell vermarktet. Das Regionalprinzip, also lokales Wirtschaften, ist auf dem Vormarsch und trägt zur Belebung des Stadtgeschehens bei. Ein wichtiger Baustein für das Stadtklima und die Verkehrsreduktion. Einen weiteren Impuls wird die Sharing Economy mit ihren neuen Geschäftsmodellen leisten. Oder das gemeinsame Kochen bzw. Bekochen, neue Formen der Gastronomie und des Miteinanders. Die Genossenschaft Kalkbreite in Zürich ist ein Beispiel, wo Kunst & Kultur, Wohnen, Arbeiten, Leben gemeinsam gestaltet werden. Eine spannende Form kollektiver Zukunftsgestaltung, die ein ganzes Quartier umfasst.

Welche Impulse ergeben sich aus der Untersuchung Ihrer Studie für die Neubelebung und Gestaltung unserer Innenstädte?

Caspar Schmitz-Morkramer: Gewisse Dinge wird der Markt regeln, weil das bisherige Modell des Handels sich überholt hat. Wir spüren dies ganz deutlich auch bei unseren Auftragsarbeiten und Umstrukturierungsaufgaben für Handelsunternehmen. Wir denken dabei nicht mehr in reinen Handelshäusern – das ist ganz klar. Wir denken nur noch im Mix, nur noch in flexiblen Strukturen, um mit den Häusern veränderungsfähig zu sein.

Klaus Burmeister: Auch wenn es ketzerisch klingen mag: Der Handel, vor allem der deutsche, hat es versäumt, sich mit den technologischen und gesellschaftlichen Veränderungen rechtzeitig und systematisch zu beschäftigen, und so sein Dilemma selbst mitbefördert. Es gibt kleinere interessante Gegenbeispiele, zum Beispiel Wuppertal, die ja ganz tief unten waren. Hier haben sich die Händler vor Ort zu Einkaufsgenossenschaften zusammengetan. Es gibt das „Future-City-Konzept“ in Langenfeld, das einen eigenen Weg beschreibt. 

Klingt vorsichtig optimistisch.

Klaus Burmeister: Wir müssen die drohende Spaltung der Stadtgesellschaft aufhalten. Die europäische Stadt steht doch für Ausgleich und Zusammenhalt. All das strahlt letztlich auch auf die City ab. Deshalb brauchen wir den Blick auf die ganze Stadt. Projekte, die Handel, lokale Produktion, unternehmerisches Handeln, Kunst und Kultur, Wohnen und Arbeiten unter einem Dach miteinander verbinden. Eine Aufbruch- und Start-up-Mentalität, die Bewegung in die verkrusteten Strukturen bringt. Hier könnten Architekten und Designer im Verbund mit Handelskonzernen, Entrepreneuren und Stadtentwicklern zusammenarbeiten und Neues entwickeln. Solche Experimente von städtischen Akteuren und der Bürgerschaft bilden den Humus, auf dem neue Formen des Arbeitens, Wohnens, des Handels und Verkehrs entstehen können. Ein Blick auf unsere Nachbarländer Holland oder Dänemark zeigt, wie es gehen könnte.

Caspar Schmitz-Morkramer: Ja, das kann ich nachvollziehen. Die Bereitschaft, sich zu öffnen, ist nach wie vor gering. Man sieht den „Angriff“ durchs Internet, man ist fast paralysiert, reagiert mit Kritik – kommt aber nicht in die Offensive. Der Online-Handel kann es aber letztlich auch nicht sein, denn der ist ja alles andere als innovativ. Bestellen von zu Hause aus konnte man schon vor mehr als 50 Jahren zum Beispiel mit dem Otto-Katalog. Das wird sich mit der Zeit wieder einpendeln und löst kein wirkliches Problem für unsere Städte. Im Gegenteil, wenn wir die Zunahme des Lieferverkehrs mitbedenken. Ihre These „Urbanität neu erfinden“ teile ich. Der Handel wird sich neu erfinden, neue Formen des Erlebens und des Miteinanders in der Stadt schaffen müssen. Der Schwerpunkt der Studie liegt auf den Innenstädten. Wir brauchen diese lebendigen Zentren gerade zur Identifikation von Stadt.

Wie etwa mit der Markthalle in Rotterdam.

Caspar Schmitz-Morkramer: Genau. Wir haben das vor rund 10 Jahren in Düsseldorf thematisiert – erweitert um Gastronomie und Veranstaltungsbereiche, damit das Leben dort rund um die Uhr stattfinden kann. Bei uns wäre zum Beispiel eine Nutzung mit Wohnen in oder über einer Markthalle, wie in Rotterdam, gar nicht möglich. Hier stehen wir uns mit unseren Bauvorschriften einmal mehr im Weg und versperren notwendige Entwicklungen. Das Gleiche sehen wir bei der durch die Digitalisierung möglichen Rückkehr von Industrie und Handwerk in die City. Das Wichtigste ist: Mut zur Veränderung! Wenn wir mehr Urbanität erzeugen wollen, brauchen wir Dichte. Wir müssen die verschiedenen Nutzungen in der Stadt wieder zusammenbekommen. Die Konzepte hierfür liegen doch längst vor, es gilt sie nun umzusetzen. Das gilt auch für den städtischen Verkehr. Wir sollten hier nicht ideologisieren und das Auto per se verteufeln, sondern schrittweise neue Mobilitätskonzepte realisieren. Das geht bekanntlich nicht von heute auf morgen. Wir neigen dazu, die Themen totzudiskutieren, statt pragmatisch den nächsten Stepp zu machen. 

Klaus Burmeister: Wir brauchen Innovationen, was im eigentlichen Sinne schöpferische Zerstörung meint. Wir müssen alte Konzepte überwinden und neu denken. Gerade feiern wir das 100-jährige Bauhaus-Jubiläum. Wenn ich mir heute die Bauhaus-Architektur im Wohnungsbau anschaue – zum Beispiel in Berlin –, dann empfinde ich das als topaktuell. Brauchen wir nicht, könnte man fragen, so etwas wie ein Bauhaus 4.0 – wir müssen doch gar nicht bei null anfangen? Wie kriegen wir so etwas in den städtischen Diskurs, in einen übergreifenden Wettbewerb der Ideen, einen Innovationswettbewerb auch für Investoren und erzeugen eine Lust auf Gestaltung? Das wäre für mich ein großes Ziel für die Aufgaben, die noch auf uns zukommen.

Caspar Schmitz-Morkramer: Wir werden die notwendigen Veränderungen nur schaffen, wenn alle Beteiligten an einen Tisch kommen. Wir als Architekten und Stadtplaner haben die große Chance, diesen Prozess zu moderieren und zu gestalten. Die Gesellschaft hat sich deutlich verändert. Es geht nicht mehr so sehr um Besitzstand, es geht vielmehr darum, die Vernetzung hinzubekommen.

Das Interview führte Andreas Grosz, Gründer und Leiter des KAP Forums für Architektur & Stadtentwicklung. Er berät namhafte Unternehmen in Fragen der Zukunftsgestaltung.

Zu Klaus Burmeister: Nach dem Studium der Politologie an der Freien Universität Berlin am IZT – Institut für Zukunftsstudien und Technologiebewertung in Berlin tätig.Ab 1990 baute er das Sekretariat für Zukunftsforschung (SFZ) in Gelsenkirchen auf; 1997 gründete er Z_punkt The Foresight Company, die heute zu den führenden Unternehmen für strategische Zukunftsberatung und Corporate Foresight zählt. 2014 rief er das foresightlab (www.foresightlab.de) ins Leben.

Hier gehts zur Studie retail in transition.



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